Die Gräber von Isjum und die distanzlose Erzählung der deutschen Medien Von Gert Ewen Ungar
Der Fund von Gräbern in der von der Ukraine zurückeroberten Stadt Isjum sorgt in deutschen Medien wieder für Aufregung.
Die Fährte für den deutschen Medienkonsumenten ist schnell gelegt: Die Spur führt nach Russland. Schaut man genauer hin, ist da wenig dran. Es ist Teil jeder Kriegspropaganda, den Gegner moralisch zu entwerten. Dass Deutschland längst in den Krieg eingetreten und zur Kriegspartei geworden ist, ist an den deutschen Medien ablesbar. Sie haben jede kritische Distanz und jedes Bemühen um journalistische Qualität zugunsten einseitiger Kriegsberichterstattung aufgegeben. Es ist Propaganda, wozu sich die großen deutschen Medienhäuser da hergeben. Schilderungen der ukrainischen Seite werden ungeprüft oder gar hinterfragt übernommen, wohingegen man bei dem, was man aus Russland nicht umhin kommt zu melden, die Leser und Zuschauer zu höchster Skepsis auffordert, wenn es denn überhaupt wiedergegeben wird. Das neueste Beispiel, an dem sich das zeigen lässt, sind die Meldungen zur Auffindung von Gräbern in der ukrainischen Stadt Isjum.
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Mit Sicherheit sollen und werden sich viele noch an Butscha erinnern – und an die von dort stammenden schockierenden Bilder. Leichen lagen viele Tage lang in den Straßen der kleinen Stadt nordwestlich von Kiew. Die Bilder waren kaum erträglich. Es wurden schwerste Vorwürfe gegen Russland erhoben. Russisches Militär habe ein Massaker unter der ukrainischen Zivilbevölkerung angerichtet, lautete sofort der Vorwurf der gegnerischen Seite. Westliche Politiker sind in den Tagen und Wochen darauf in Scharen zu den Leichensäcken gepilgert und haben sich in Betroffenheit ablichten lassen. Es wurde Aufklärung gefordert. Die hat es nie gegeben. Es fragt auch niemand danach, was aus der Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung geworden ist. Nichts ist aus ihr geworden, wäre die korrekte Antwort auf diese richtige Frage, die deutsche Medien aber nicht stellen. Sie stellen sie deshalb nicht, weil ihre Aufgabe damit abgeschlossen war, drastische Bilder zu verbreiten, die bewusst emotionalisieren und eine Vorverurteilung Russlands ermöglichen sollten. Das erhöht die Bereitschaft, die auch in Deutschland spürbaren Folgen der eigenen Sanktionen und auch dieses Krieges zu ertragen. Wer heute nach den Ereignissen von Butscha fragt, wird automatisiert zur Antwort bekommen, dass russische Soldaten dort grausame Verbrechen begangen hätten, obwohl die korrekte Antwort wäre, dass man es nicht weiß, weil es nie unabhängig und eingehend untersucht worden ist. Dieser Ablauf scheint sich jetzt angesichts der Funde von einer Begräbnisstätte am Stadtrand der ukrainischen Stadt Isjum zu wiederholen.
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Die deutschen Medien übernehmen die ukrainische Sicht und dichten noch ein bisschen Ausschmückendes drum herum, wie beispielsweise Der Spiegel. „Man denkt an Butscha und Irpin, jene Vororte Kiews, die zu Sinnbildern für den Schrecken des russischen Angriffskriegs wurden. Schnell ist man bei der Frage, ob es Kriegsverbrechen gab“, schreibt Der Spiegel. Butscha wurde nie aufgeklärt, aber es eignet sich genau deshalb hervorragend für antirussische Propaganda. Butscha und Isjum nun in einen Satz zu packen, signalisiert den Lesern: Der Russe hat es getan, schon wieder getan. So einfach funktioniert Propaganda. Es geht in der Redaktion beim Spiegel nicht um Aufklärung, es geht dort und bei den großen deutschen Medien vor allem darum, in einem Informationskrieg die Oberhand über das Narrativ zu behalten.
Die Geschichte soll stets lauten: Russland ist der Aggressor, russische Soldaten sind unzivilisierte, slawische Barbaren, die rauben, brandschatzen, vergewaltigen, foltern und natürlich morden.
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Es gibt in der Ukraine zweifellos Kriegsverbrechen. Nachweislich werden solche Verbrechen von der Ukraine begangen: Dazu gehört der tägliche Beschuss der beiden Volksrepubliken im Donbass. Nahezu jeden Tag sterben dort Zivilisten. Es gibt dort keine militärischen Ziele. Von diesen Kriegsverbrechen berichten die großen deutschen
Medien – wie seit acht Jahren – nichts und machen damit ihre Verflechtung, ihre „Einbettung“ in diesen Krieg deutlich. Die zivile Infrastruktur in Donezk wird mit westlichen Waffen der NATO beschossen. Das sollte man sich auch immer wieder vergegenwärtigen, wenn man nach schnellen und umfassenden Waffenlieferungen ruft.
Sie vertiefen die Gräben, die sich durch die Kulturen der Ukraine ziehen, sie können sie nicht schließen. Wie die Menschen in der Ostukraine mit denen der Westukraine jemals nach einem ukrainischen Sieg wieder zusammenleben könnten, ist eine Frage, über die jene offenkundig nicht nachdenken wollen, die nach Waffen und immer mehr Waffen für die Ukraine rufen.
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Doch zurück nach Isjum und was deutsche Medien daraus machen. Die Tagesschau beispielsweise schreibt: „Die Menschen im Wald von Isjum wurden zwischen März und Mai getötet, vor allem durch russische Bomber und Artilleriebeschuss, sagt der Chefermittler der Polizei der Region Charkiw, Sergej Bolwinow. Während der russischen Besatzung haben die Bewohner von Isjum die Toten gemeinsam mit lokalen Bestattern beerdigt, laut Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft auf Druck der Besatzer.“ „Druck der Besatzer“ klingt natürlich ganz schrecklich. Aber mal an die Tagesschau gefragt: Was wäre denn die Alternative gewesen? Sollten die Toten einfach liegenbleiben, so wie sie nach vielen Tagen auf den Straßen in Butscha vorgeführt wurden?
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Russland hat die Kontrolle über Isjum im April übernommen. Wer von den „Besatzern“ hat die Toten bestattet, die dort im März gestorben sind? Und dann noch eine Frage: Wenn die Mehrheit vor allem durch russische Bomber und Artilleriebeschuss getötet worden sind, warum sollte Russland nach der Einnahme von Isjum Anfang April bis Mai weiter die Stadt mit Artillerie beschießen? Das ergibt doch keinen Sinn und entbehrt jeder Logik, was der Chefermittler erzählt und die Tagesschau unkritisch wiedergibt.
Medial eingerahmt wird die Erzählung über Isjum von einem Bericht über gefundene Briefe von russischen Soldaten, welche angeblich bei ihrem überhasteten Rückzug zurückgelassen worden wären. Darin wird von ihrer moralischen und physischen Erschöpfung berichtet. Sie berichten von Urlaubswünschen, die nicht realisiert werden durften und von ihrer Weigerung, weiterhin Dienst zu leisten. Veröffentlicht hat diese Story über solche Briefe zuerst die Washington Post, welche die Briefe von ukrainischen Streitkräften erhalten haben will.
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Die Washington Post gibt zwar zu, dass man über die Echtheit der Briefe zunächst gar nichts sagen könne, bewertet sie aber dennoch sogleich für „ziemlich sicher echt“ und kommt sich dabei nicht einmal albern vor. Unter anderem der Tagesspiegel übernimmt diese Geschichte, obwohl sich die vom Gegenstand und Inhalt her eher für ein Boulevard-Blatt eignet als für eine Zeitung mit solchem Anspruch von Seriosität. Aber egal, Hauptsache der gewünschte Dreh passt. Die „Heimatfront“ soll wissen, „der Russe“ ist zu jeder Grausamkeit nicht nur fähig, sondern auch willig – aber er ist nun auch erschöpft. Der verdiente Sieg ist daher nah. Da deutsche Medien sich konsequent weigern, irgendetwas von der russischen Haltung und Sichtweise wiederzugeben oder auch nur russische Quellen zu zitieren, sei das hier ergänzt. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass die Armee der Ukraine, bei ihren verlustreichen Kämpfen oft zum Rückzug gezwungen, die eigenen toten Soldaten einfach liegen lässt. Russische Medien berichten immer wieder davon, dass die russische Armee gefallene ukrainische Soldaten beerdigt, weil die Leichen von ihren Kameraden einfach zurückgelassen wurden. Diese Toten sind dann in der Regel namenlos. Das erklärt einen Teil der gefundenen Gräber in Isjum.
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Die Vorhersage bedarf keiner großen hellseherischen Fähigkeiten, dass die „Ermittlungen“ zu Isjum genauso wie die „Ermittlungen zu Butscha“ im Sande verlaufen werden. Es gibt seitens des Westens überhaupt kein Interesse an unabhängiger, objektiver Aufklärung. Es gibt lediglich ein Interesse an jeglichem Material, das sich medial zu Propagandazwecken eignet. Die Ukraineaine liefert dieses Material ebenso bereitwillig, wie deutsche Medien bei dessen Verbreitung samt den mitgelieferten Behauptungen helfen.
Die Vorwürfe sind in die Welt gesetzt: Russland erschießt und foltert Zivilisten. Mit der Weitergabe dieser Information hat der deutsche Journalismus seine Schuldigkeit getan. Ob das wahr ist oder nicht, ist gar nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine durch emotionalisierende Bilder und Berichte aufrechterhalten bleibt. Das ist das Ziel.
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Das Ziel ist nicht, mit journalistischen Mitteln einen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu liefern. Darum geht es in Zusammenhang mit der deutschen Berichterstattung zur Ukraine schon längst nicht mehr. Sonst würde man auf all die Unstimmigkeiten in der Geschichte um die Gräber von Isjum hinweisen und sich bei der Verbreitung all des ungesicherten Materials deutlich zurückhaltender zeigen. Dass man es nicht tut, zeigt: Der deutsche Journalismus ist spätestens ab diesem Moment Teil der einseitigen Parteinahme und letztlich der medialen Flankierung beim Führen dieses Krieges auch von Deutschland aus – und damit als Journalismus faktisch tot.